Krach im Weltverband: Schiedsrichter-Boss schmeißt hin

Der Schiedsrichterboss schmeißt hin und wirft IHF-Präsident Moustafa Einflussnahme vor: Warum der Spanier Ramon Gallego zwei Monate vor Tokio mit heftiger Kritik zurücktritt 

Zwei Monate vor den Olympischen Spielen in Tokio kracht es beim Welthandballverband gewaltig: IHF-Schiedsrichterchef Ramon Gallego aus Spanien ist von allen seinen Ämtern zurückgetreten, nachdem IHF-Präsident Hassan Moustafa sowie IHF-Managerin Amal Khalifa (beide Ägypten) ihm mitgeteilt hatten, dass er von der Akkreditierungsliste für Tokio gestrichen wurde. Und das, obwohl Gallego neben dem Dänen Per Bertelsen (Chef der Wettkampfkommission) für das Olympische Handballturnier zuständig ist.

Was war passiert?

Gallego wirft Moustafa Einflussnahme bei der Nominierung von Schiedsrichtern für Weltmeisterschaften und andere IHF-Veranstaltungen wie zuletzt im März die Olympia-Qualifikationsturniere vor. „Die Gründe für meinen Rücktritt sind meine ernsthaften Meinungsverschiedenheiten mit dem IHF-Präsidenten aufgrund seiner Einmischung in die Nominierungen der Schiedsrichter. Wir sollten den Schiedsrichtern einfach die bestmöglichen Bedingungen für ihre Arbeit geben, und sie von externen und nicht-sportlichen Faktoren fernhalten“, schreibt Gallego in einer E-Mail an die HANDBALLWOCHE.

Der HANDBALLWOCHE liegt zudem das vierseitige Schreiben Gallegos an alle Mitglieder der IHF-Exekutive sowie alle IHF-Schiedsrichter vor. Zudem untermauerte der frühere Spitzenschiedsrichter aus Galizien alle Vorwürfe in einem Telefoninterview mit unserer Zeitschrift.

„Hassan Moustafa hat mich behandelt wie ein kleines Kind, so geht man nicht mit jemanden um, der seit 40 Jahren im Handball und seit Jahrzehnten auch in der IHF tätig ist. Mit sofortiger Wirkung trete ich als Chef der Schiedsrichter- und Regelkommission sowie aus allen über 25 Projekten zurück, für die ich für die IHF und in deren Auftrag im Einsatz war“, sagte Gallego. Seit 2017 ist er als Nachfolger des Offenburgers Manfred Prause Schiedsrichterboss der IHF, im November stehen beim nächsten IHF-Kongress in Antalya die nächsten Wahlen an. Dann kandidiert der 78-jährige Moustafa wieder als Präsident – Gallego aber steht nicht mehr zur Verfügung.

Nach Aussage von Gallego wirft ihm die IHF-Spitze vor, die Anweisungen des IHF-Präsidenten bei den Schiedsrichter-Nominierungen nicht zu befolgen, speziell, wenn es darum geht, „Schiedsrichter aus der gleichen Region anzusetzen für Spiele mit Beteiligung aus der gleichen Region“.

Was aber ist für die IHF eine Region?

Das wird speziell im Falle Skandinaviens deutlich: „Hassan Moustafa bezweifelte die Unparteilichkeit von nordeuropäischen Schiedsrichtern, die andere nordeuropäischen Teams pfeifen“, sagte Gallego der HW. Der erste Fall sei das WM-Vorrundenspiel von Ägypten gegen den späteren Vizeweltmeister Schweden gewesen, das der Gastgeber verlor. Laut ägyptischen Medienberichten wollte der heimische Verband offiziell Protest einlegen, weil Norweger die Partie geleitetet hätten. Zweiter Fall, der Gallego angekreidet wird, war das Olympia-Qualifikationsspiel der Frauen in Montenegro, das Europameister Norwegen gegen Rumänien gewann und sich so für Tokio qualifizierte – die Schiedsrichterinnen kamen aus Dänemark.

Gallego reagierte fassungslos: „Ich denke, dass die besten Schiedsrichter für die wichtigsten Turniere nominiert werden müssen, unabhängig von Geschlecht oder Nationalität, egal wie viele Gespanne aus einem Land kommen, unabhängig von der Sprache der Teams und Schiedsrichter. Die aktuellen IHF-Schiedsrichter sind ehrlich und professionell. Transparenz besteht jedoch leider nicht, was ihre Einkünfte betrifft, obwohl ich darauf gedrängt habe. Ich kann keinen politischen Druck tolerieren, der die Unabhängigkeit der IHF-Schiedsrichter gefährden könnte.“

Bereits am 14. Mai erhielt Gallego nach eigener Aussage eine Mail von Amal Khalifa, der ägyptischen Managerin des IHF-Hauptquartiers in Basel, dass er von den Olympischen Spielen in Tokio ausgeschlossen worden sei. Grundlage sei auf Antrag Moustafas eine einstimmige Entscheidung der IHF-Exekutive gewesen, zu der neben Moustafa Vizepräsident Joel Delplanque (Frankreich), Schatzmeisterin Anna Rapp (Schweden) sowie Frantisek Taborsky (Tschechien) und Narcisa Lecusanu (Rumänien) gehören.

In seinem Schreiben an die Exekutive verdeutlicht Gallego unterdessen, welche Vorarbeit er speziell für die Olympischen Spiele von Tokio geleistet hatte, die über die reine Nominierung von Schiedsrichtern hinausging. Dazu zählen: Seine Aufgabe für IHF und IOC als Internationaler Delegierter (ID) für Handball in Tokio (zusammen mit Per Bertelsen) seit 2016, seine Tätigkeit im Auftrag der IHF und des IOC für ORIS (Olympisches Ergebnis- und Informationssystem) seit 2015, die langjährige Vorbereitung mit den für Tokio nominierten IHF-Schiedsrichtern (darunter auch die Magdeburger Tobias Tönnies und Robert Schulze), die Vorbereitung der japanischen und der IHF-Delegierten, die Vorbereitung des Schiedsrichter-Analysesystems Dartfish sowie mit Swiss Timing (elektronische Unterstützung der Schiedsrichter in Sachen Videobeweis) für Tokio.

Die Kritik

Seine Hauptkritik an Moustafa: „Die Anweisung, keine Schiedsrichter aus denselben Regionen der beteiligten Teams zu nominieren, wurde nie ausdrücklich angeordnet. Darüber steht in den IHF-Statuten und -Vorschriften nichts geschrieben. Es gibt keine offizielle oder inoffizielle Liste von Ländern, die zu einer Region gehören. Diese Liste könnte unendlich sein: Skandinavien, Ex-Jugoslawien, Mittelmeer, ehemalige Sowjetrepubliken, nicht-europäische Kontinente und so weiter.“

Im Gegensatz zu Moustafa stellt sich Gallego ganz klar vor seine Schiedsrichter: „Es mangelte und mangelt ihnen niemals an Unparteilichkeit. Wir haben derzeit die ehrlichste Gruppe von Schiedsrichtern auf und neben dem Feld. Die IHF-Schiedsrichter trainieren sehr professionell, obwohl sie keine Profis sind – physisch, technisch und taktisch. Zudem habe ich habe immer das Kriterium der Länderneutralität beibehalten. Es gab nie Nominierungen für Schiedsrichter aus demselben Land eines der Teams“, sagte Gallego der HANDBALLWOCHE.

In anderen Sportarten sei dies anders – so wurde zum Beispiel das Eishockey-Olympiafinale USA gegen Kanada im Jahr 2010 unter anderem von zwei kanadischen Schiedsrichtern geleitet. „In der EHF gibt es ebenfalls nicht dieses Regionen-Denken wie in der IHF“, sagt Gallego und verweist auf das EM-Finale von Stockholm 2020, als zwei mazedonische Schiedsrichter die Partie Kroatien gegen Spanien leiteten, ohne das es irgendwelche Diskussionen gegeben hätte.

„Nach all‘ diesen Anschuldigungen und dem Entzug der Olympia-Akkreditierung blieb mir nur eine Entscheidung – mein sofortiger Rücktritt von allen Ämtern in der IHF. Natürlich habe auch ich Fehler gemacht, aber dieses respektlose Verhalten meiner Arbeit gegenüber kann ich nicht tolerieren. So kann man keinen Sportverband führen. Da wir zu diesen wesentlichen Themen völlig unterschiedliche Sichtweisen haben, können wir nicht weiter zusammenarbeiten.  Es ist nach über 40 Jahren die Zeit gekommen für ein normales Leben außerhalb des Handballs, Zeit für meine Familie.“

Nach HW-Informationen versuchte Dietrich Späte (Münster), der Leiter der IHF-Trainerkommission, noch im Streit zu vermitteln und Moustafa umzustimmen. Vergeblich. Wer in Tokio nun für die Schiedsrichter verantwortlich ist, ist derzeit offen. Möglich ist, dass Gallegos dänischer Stellvertreter in der Kommission, Bjarne Munk Jensen, diese Aufgabe übernimmt. Über Olympia hinaus ist natürlich spannend, wer nach diesen Vorwürfen Gallegos im November im türkischen Antalya beim IHF-Kongress als künftiger Weltschiedsrichterboss kandidiert.

Die IHF hat sich am späten Mittwochabend mit einer offiziellen Stellungnahme zu Gallegos Vorwürfen geäußert (siehe unten).  Gallegos Schreiben an die IHF-Exekutive endet derweil mit einem fast schon philosophischen Satz: „Handball wird es immer geben – egal, wer die Spitzenposition innehat. Ich bin nicht unbedingt erforderlich, genau wie alle anderen auch. Sicher werden in Zukunft andere Leute kommen, die einen tollen Job machen werden. Handball – wie jede andere Sportart – ist aber das Wichtigste.“

Die Stellungnahme der IHF im Wortlaut:
Wie bei internationalen Verbänden üblich, unterliegen alle Beteiligten und Organe der Internationalen Handball-Föderation (IHF) der Aufsicht, die IHF-Kommissionen werden beispielsweise vom IHF-Exekutivkomitee beaufsichtigt. Gemäß der üblichen Praxis legen die Wettbewerbs-Kommission und die Schiedsrichter-Kommission ihre Nominierungs-Vorschläge für Turniere dem IHF-Exekutivkomitee zur Genehmigung vor. Das Exekutivkomitee hat das Recht, gegebenenfalls Änderungen zu beantragen. Danach steht es dem Kommissions-Präsidenten frei, die Schiedsrichtergespanne für die jeweiligen Spiele zu nominieren.
Als Vorsitzender des Exekutivkomitees riet IHF-Präsident Dr. Hassan Moustafa dem Kommissions-Präsidenten mehrmals, Schiedsrichter aus denselben Regionen nicht mit der Leitung der Spiele der betroffenen Mannschaften zu beauftragen, um nicht nur Neutralität zu gewährleisten (die IHF hat das Vertrauen in die Neutralität aller IHF-Schiedsrichter), sondern auch um Kritik und Beschwerden gegen die Schiedsrichter und die IHF zu verhindern. Die Anweisung war nicht auf eine bestimmte Region beschränkt, beispielsweise wurde dem Kommissionspräsidenten geraten, keine arabischen Schiedsrichter für Spiele arabischer Mannschaften zu nominieren, um die Schiedsrichter (…) vor Kritik durch die Öffentlichkeit oder die Medien zu schützen. Darüber hinaus könnte der Einsatz von Schiedsrichterpaaren aus der gleichen Region Vorteile für ein Team mit der gleichen Sprache bringen. Die Nominierung eines norwegischen Schiedsrichterpaares für das WM-Vorrundenspiel Schweden gegen Ägypten am 18. Januar 2021 in Ägypten wurde sowohl von der Öffentlichkeit als auch von den Medien stark kritisiert. Daher wandte sich die IHF an den Kommissions-Präsidenten, um ihn erneut daran zu erinnern, die oben genannte Anweisung zu berücksichtigen, die er erneut ignorierte, als er bei der Olympiaqualifikation der Frauen am 20. März ein dänisches Schiedsrichtegespann für das Spiel Norwegen gegen Rumänien nominierte. Der Präsident des rumänischen Handballverbandes beschwerte sich mit offiziellem Schreiben vom 29. März 2021 bei der IHF über die oben erwähnte Nominierung der Schiedsrichter. Er erklärte0, dass „die Entsendung von Schiedsrichtern aus Dänemark zu einem Spiel mit norwegischer Beteiligung nicht inspiriert und unglücklich war“.
(…) Vor Finalen von IHF-Großturnieren beriet sich der Vorsitzende der Schiedsrichter-Kommission mit dem Vorsitzenden der COC über die Ernennung der Schiedsrichter. Bei der Männer-WM 2021 in Ägypten beschloss der Vorsitzende der PRC jedoch ohne Rücksprache, das spanische Schiedsrichtergespann für das Endspiel zu nominieren.
Nach der üblichen Praxis sind die Schiedsrichternominierungen für IHF-Veranstaltungen auf ein Gespann pro Nationalverband beschränkt. Der PRC-Vorsitzende bestand jedoch darauf, zwei Schiedsrichterpaare aus Spanien für die IHF-Männer-Weltmeisterschaft 2021 in Ägypten zu nominieren. Selbst nach der Bemerkung des IHF-Präsidenten, die Nominierung von zwei Paaren aus einem Nationalen Verband zu vermeiden, um Vielfalt und eine gerechte Verteilung unter den Nationalverbänden zu gewährleisten, schlug der PRC-Vorsitzende erneut vor, zwei Gespanne aus Spanien für die Olympischen Spiele 2020 in Tokio zu nominieren. Im März 2021 wandte sich die IHF an den PRC-Vorsitzenden und bat um eine Erklärung zu den Vorfällen. Dessen Beitrag rechtfertigte jedoch nicht seine oben genannten Entscheidungen.
Darüber hinaus sorgt der PRC-Vorsitzende für einen ständigen Konflikt mit dem Europäischen Handballverband (EHF), der sowohl die IHF als auch die EHF zwang, gegenseitige Treffen einzuberufen, um die Probleme durch Vermittlung durch ihre Präsidenten zu lösen. Aufgrund der Differenzen des PRC-Vorsitzenden mit dem IHF-PRC-Mitglied Dragan Nachevski berücksichtigte der PRC-Vorsitzende nicht den IHF-Schiedsrichter Gjorgji Nachevski (Dragan Nachevskis Sohn) bei seinen ersten Schiedsrichternominierungen für die Olympischen Spiele in Tokio 2020. Anschließend entschuldigte sich der PRC-Vorsitzende und nominierte Gjorgji Nachevski. Am 20. April 2021 organisierte das IHF-Exekutivkomitee eine Videokonferenz, um die Vorfälle zu erörtern. (…)
Um das Image der IHF zu schützen, wurde einstimmig beschlossen, den PRC-Vorsitzenden Ramón Gallego nicht in die Liste der IHF-Nominierten für die Olympischen Spiele in Tokio aufzunehmen. Die Entscheidung des Exekutivkomitees betraf keine andere Funktion Ramón Gallegos Position als PRC-Vorsitzender.
Mit offiziellem Schreiben vom 25. Mai 2021 trat Ramón Gallego jedoch als PRC-Vorsitzender zurück. Der Rücktritt von Ramón Gallego wird dem IHF-Rat bei seiner nächsten Sitzung vorgelegt. (…) Der Inhalt des Rücktrittsschreibens von Ramón Gallego, das er selbst der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, ist nicht akzeptabel. Der IHF-Präsident war der Meinung, dass Ramón Gallego nur menschliche Fehler begangen habe, was sich jedoch nicht in seiner Rücktrittskampagne widerspiegelte. Die IHF bedankt sich bei allen Interessengruppen, einschließlich dem IHF-Präsidenten, die Ramón Gallego kontinuierlich ihre Unterstützung angeboten haben, noch bevor er zum PRC-Präsidenten gewählt wurde. (…)

 

Autoren: Björn Pazen/Olaf Bruchmann