Frankfurt/Main (dpa) – An diesem Donnerstag trifft sich die deutsche Handball-Nationalmannschaft in Frankfurt zur unmittelbaren Vorbereitung auf die Europameisterschaft.
Bundestrainer Christian Prokop spricht im Interview der Deutschen Presse-Agentur über die Entwicklung der DHB-Auswahl im zurückliegenden Jahr und seine Hoffnungen und Ziele für 2020.
Wie viel ist von der Euphorie und Aufbruchstimmung der Heim-WM 2019 übrig geblieben?
Christian Prokop: Ich glaube, dass die Euphorie im Land wieder schnell entstehen kann, aber jetzt geht es erstmal bei Null los. Bei der EM braucht es unseren Anschub, dass wir mit Erfolgen und der Art und Weise, wie wir spielen, den Handball wieder in die Öffentlichkeit bringen und damit an die WM-Euphorie anknüpfen.
Wie bewerten Sie die Entwicklung in den vergangenen zwölf Monaten?
Prokop: Überaus positiv, wenngleich wir Verbesserungspotenzial haben und das auch ausschöpfen müssen, um den nächsten Schritt zu gehen. Wir wollen unsere Stärken, die zum Erfolg geführt haben, wieder voll abrufen. Da spreche ich als Erstes von einer sehr aggressiven und cleveren Abwehrarbeit. Wir brauchen natürlich ein starkes Torhütergespann. Ohne werden wir eine normale EM spielen, aber nichts Außergewöhnliches erreichen können. Und wir wollen wieder das disziplinierte Angriffsspiel mit Spielfreude paaren. Dabei müssen wir leichte technische Fehler vermeiden, denn die sind häufig der Tod einer jeden Mannschaft.
Die EM-Vorbereitung ist jedoch kurz. Glauben Sie, dass die Zeit ausreicht?
Antwort: Jeder Spieler hat in der Vorbereitung seine Einzelaufgaben bekommen – ob im athletischen, technisch-taktischen oder mentalen Bereich. Ich bin zuversichtlich, dass jeder sein Investment gemacht hat, damit wir als Mannschaft den entscheidenden Schritt weiterkommen.
Das wäre nach Rang vier bei der WM eine Medaille. Gehen Sie mit dieser klaren Botschaft in das Turnier?
Prokop: Das ist unser Traum, unser übergeordnetes Ziel. Aber dafür wollen wir in jedem EM-Spiel in vollem Umfang unsere Handlungsziele erreichen. Wir wollen gegen die Niederlande gut starten und uns von Spiel zu Spiel in das Turnier hineinspielen. Bekommen wir das hin und können wieder auf unseren Teamgeist bauen, auf unseren Zusammenhalt, dann werden wir ein ernstzunehmender Gegner für jede Mannschaft sein, die auch ins Halbfinale einziehen will. Erreichen wir das Halbfinale, wollen wir aus der Vergangenheit gelernt haben. Aber bis dahin ist es ein weiter Weg.
Sehen Sie die Gefahr, dass die Euphorie rund um den Handball versandet, wenn es keine erfolgreiche EM wird?
Prokop: Mit solchen Gedanken beschäftige ich mich nicht. Natürlich wäre es ein kleiner Rückschlag und nicht optimal in einem wichtigen Jahr, wo wir wahrscheinlich im April noch ein Olympia-Qualifikationsturnier spielen. Wir wollen einfach an das anknüpfen, was wir vor einem Jahr gezeigt haben. Dafür müssen wir alle wieder Lust haben, 100 Prozent zu investieren und als Mannschaft füreinander da zu sein. Ich sehe das positiv, kann aber auch die Stärke der Konkurrenz gut einschätzen.
Sie können mit einem EM-Gewinn direkt das Tokio-Ticket lösen. Haben Sie Olympia im Hinterkopf?
Prokop: Das Thema ist sicherlich irgendwo im Hinterkopf. Es bringt aber nichts, jetzt schon in Richtung Sommer 2020 zu denken. Wir müssen einen Schritt nach dem anderen gehen und die Fokussierung voll auf die Europameisterschaft halten.
Wer sind für Sie die großen Goldanwärter?
Prokop: Für mich sind die beiden WM-Finalisten Dänemark und Norwegen die Topfavoriten. Beide Nationen haben in den vergangenen Jahren konstant starke Leistungen gebracht. Aber auch Länder wie Frankreich, Spanien oder Kroatien zählen zum erweiterten Favoritenkreis.
Fehlt der deutschen Mannschaft noch etwas zur absoluten Weltspitze oder ist sie schon so weit?
Prokop: Dass wir diesen Schritt gehen können, davon bin ich überzeugt. Es ist keine Nation weit weg. Aber es besteht eben auch die Möglichkeit, zwischen Platz eins und acht alles zu erreichen, ohne einen riesengroßen Leistungsunterschied zu spüren. Dieser Konzentration, dieser Konsequenz in der Spielweise über 60 Minuten müssen wir uns bewusst sein. Es gilt, Schwächephasen in den Spielen zu verhindern. Meine Aufgabe wird sein, gemeinsam mit meinem Team eine gute Wechselstrategie zu entwickeln.
Eine Problemposition ist die des Spielmachers, wo ihnen gleich mehrere Akteure weggebrochen sind. Bereitet ihnen das große Sorgen?
Prokop: Wir werden keine alleinige Lösung haben und müssen das als Team kompensieren. Alle Rückraumspieler sollen Druck entwickeln, Disziplin halten und eine Gesamtverantwortung übernehmen. Personell wird Paul Drux gemeinsam mit Marian Michalczik oder Philipp Weber auf der mittleren Rückraumposition die Spielführung leisten.
Schmälern die Ausfälle die Chancen der DHB-Auswahl?
Prokop: Wir haben einen ganz schönen Aderlass, deshalb wäre es nicht verkehrt, wenn die Erwartungshaltung der Öffentlichkeit nicht ins Unermessliche steigt. Aber ich finde, dass wir bewusst und konsequent an unseren Zielen festhalten sollten.
Mit welchen sportlichen Hoffnungen gehen Sie ins Jahr 2020?
Prokop: Ich hoffe, dass es für uns ein sportlich sehr erfolgreiches Jahr wird und wir konsequent für unsere Hoffnungen arbeiten und handeln. Wir träumen als Leistungssportler von den Medaillen.
ZUR PERSON: Christian Prokop (41) ist seit dem 1. Juli 2017 Bundestrainer der deutschen Handballer. Zuvor trainierte der Familienvater den Bundesligisten SC DHfK Leipzig. Seinen bisher größten Erfolg mit der DHB-Auswahl feierte er mit Rang vier bei der Heim-WM 2019.